Brechts “Trommeln in der Nacht” – ein modernes Revolutionsstück

„Glotzt nicht so romantisch!“[1] Kaum eine Aufforderung bringt die Grundidee von Brechts Epischem Theater kürzer und treffender auf den Punkt, nämlich die Auflösung der Illusion im Theater, die Aufforderung an das Publikum, sich mit dem Geschehen auf der Bühne kritisch auseinander zu setzen und aus den vorgeführten Umständen ebenjene in der Realität zu ändern. Dennoch zählt das Stück, zu dessen Uraufführung an den Münchner Kammerspielen im Jahre 1922 Plakate mit unter anderem ebenjener Aufforderung auf Brechts Wunsch hin im Zuschauerraum hingen, nämlich „Trommeln in der Nacht“ – ursprünglich hatte Brecht dem Stück den Namen „Spartakus“ gegeben – nicht zur Gattung des Epischen Theaters, das in der Forschung zum ersten Mal in „Mann ist Mann“ in Erscheinung tritt.[2]  Hin und hergerissen ist die Wissenschaft, wenn es um die Einordnung des Stückes in eine Theatergattung geht: Konrad Feilchenfeldt etwa fasst das Stück als ‘Zeitstück’ auf[3], Hans Kaufmann hebt das Komödienhafte bei seiner Einordnung hervor[4], Werner Hecht will es als Auseinandersetzung mit dem Expressionismus wissen[5], Manfred Voigts mit der Romantik.[6]

Doch nicht nur dass das Stück in der Forschung nicht recht in eine bestimmte Gattung einzuordnen ist, es entbehrt auch generell eines allzu großen Interesses: „Überhaupt liegt Trommeln in der Nacht der gegenwärtigen Forschung etwas fern. Wie Hans Kaufmann richtig bemerkt, steht ‘das Stück des Zwanzigjährigen […] in der heutigen Brecht-Debatte im Schatten der späteren Werke des Dichters.’“[7] Dennoch meint jener Hans Kaufmann eben auch, dass in den „Trommeln“[8] „[…] so bedeutende Ansätze der Erneuerung eines realistischen Dramas [stecken], daß man von seinem Erscheinen eine neue Phase in der Geschichte des deutschen Dramas datieren kann.”[9]

Die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung ist, in welchem Maße Elemente aus Brechts epischem Theater in „Trommeln in der Nacht“ bereits vorhanden sind. Dabei geht es von bühnentechnischen Mitteln wie den bereits erwähnten Plakaten sowie der Nutzung von Musik über spezifisch antiillusionistische Mittel in der Sprache und der bewusste Zerstörung der romantischen Emotion in den Gesprächen hin zur von Brecht in frühem wie spätem Stadium benutzten Gestik. Daran soll deutlich werden, dass es in dem Stück zwar schon – entgegen Brechts eigenem späteren Urteil – eine Verfremdung des Vorgangs auf der Bühne gibt, diese aber noch in ihren Grundzügen steckt bzw. in einer anderen Art und Weise vorhanden ist als in den späteren Stücken, die die Forschung zur Gattung des epischen Theaters zählt.

Epische Elemente in “Trommeln in der Nacht”

Hintergrund/Umwelt

Eines der markantesten Mittel Brechts, bereits in den „Trommeln“ durch das Bühnenbild und die  Umwelt der dramatischen Konstellation Einfluss auf den Zuschauer zu nehmen, sind Plakate im Zuschauerraum, die bereits zu Beginn erwähnt wurden. Diese erinnern den Zuschauer nicht nur daran, das Geschehen nicht zu romantisieren und ihm somit die politische Relevanz und Reflexion auf die eigene Wirklichkeit zu nehmen, sondern kündigen auch die Handlung des kommenden Aktes an, zwar nicht wie beispielsweise im Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ durch konkrete Angaben des kommenden Geschehens zwecks Vernichtung der Spannung und Konzentration auf die Art der Darstellung, doch durch Vorausdeutungen der Thematik bzw. durch inhaltliche Anregungen, durch die der Zuschauer das Geschehen unter ebendiesen Aspekten betrachten kann. Es wird somit Einfluss auf die Betrachtungsweise des Zuschauers genommen, seine Wahrnehmung soll in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, ebenso wie der Zuschauer beispielsweise im „Guten Mensch von Sezuan“ durch die Apostrophen der Schauspieler ans Publikum zu einer ganz spezifischen Deutung gelangen soll, nur dass dieser Effekt in den „Trommeln“ noch schwach zu erkennen ist. Am deutlichsten wird die Einflussnahme auf den Zuschauer im vierten Akt, der mit dem Plakat „Es kommt ein Morgenrot“ den Morgen der Revolution beschreibt, denn die Bezeichnung Morgenrot nimmt voraus, dass die ‘rote’ Revolution – wie das Morgenrot des Tages am Mittag vergangen ist – sich ebenso wandeln bzw. vergehen wird wie Kraglers revolutionäre Haltung am Ende des Stückes.

Für Astrid Oesmann sind nicht nur die Schilder Teil eines „[…] complex network of epic components that simultaneously support and interrupt the fable of the play. The stage directions, for example, call for signs bearing the title of each act to serve as part of the set. The sign simultaneously announces the title of the act and imports Kragler’s fragmented past into the bourgeois present “[10] Meiner Meinung nach bieten sie jedoch nicht allein Einblick in seine Vergangenheit, sondern sind auch – wie gerade geschildert – eine konkrete Einflussnahme auf den Zuschauer.

Doch nicht allein die Plakate bezeugen ein ‘unterbewusstes’, zumindest aber noch nicht konzeptionalisiertes Benutzen epischer Elemente in den „Trommeln“. Vor allem der Rote Mond aus Pappe, der sinnbildich für die Revolution beim Auftauchen Kraglers rot aufglüht und den er am Ende mit einer Trommel vom ‘Himmel’ wirft, parodiert sowohl die romantische Sicht auf die Revolution als auch auf das Theater selbst. Guy Stern meint dazu: „Der rote Mond dient also nicht nur dem politischen Engagement, wenn von einem solchen überhaupt die Rede sein kann, sondern in erster Linie der Darstellungstechnik: Er ist meines Erachtens das erste Beispiel einer Brechtschen Verfremdung. So wird dieses Stilmittel auch von Marianne Kesting aufgefaßt: ‘Die Sprüche im Zuschauerraum, in deutlicher Absicht des épater le bourgeois angebracht, enthielten zugleich einen Angriff auf die Wirklichkeitsidentifikation der naturalistischen Bühne. Durch allerlei Verfremdungen wie das Aufglühen des roten Monds . . . übertrug Brecht die Vorgänge auf eine parabolische Ebene und betonte das Spiel als Spiel.’“[11] Die Auffassung des Mondes als erstes Verfremdungsmittel ist insofern gerechtfertigt, als dass der Mond nicht nur ein parodistisches Bühnenelement ist, durch das eine Romantisierung der Bühnenvorgänge verhindert werden soll, sondern sich auch in den Dialogen widerspiegelt: Kragler meint etwa, als Anna ihm gesteht, schecht zu sein, da sie nicht bis zuletzt auf ihn gewartet habe: „Ich weiß nicht, was du sagst. Aber vielleicht ist es der rote Mond.“[12] Der Kellner Manke meint später auch: „Er hat den Mond im Kopf.“[13] und verwendet somit wieder die bühnentechnische ‘Umwelt’ Kraglers, um seinen Zustand zu beschreiben. Der Bühnenhintergrund greift also sowohl in die inhaltliche als auch in die rezeptionelle Ebene ein, indem den Zuschauern deutlich gemacht wird, dass Kraglers revolutionäres Verhalten lediglich den ‘roten Umständen’ der Zeit geschuldet sind, ihm ein tiefes revolutionäres Denken jedoch fehlt.

Musik

Zahlreiche Lieder durchbrechen das Geschehen des Stückes bzw. begleiten es, zwar noch nicht in epischer Weise von den Schauspielern den Erzählfluss unterbrechend vorgetragen, doch Brecht selbst schreibt 1935 in einer Abhandlung Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater: „Für episches Theater wurde, soweit es meine eigene Produktion betrifft, in folgenden Stücken Musik verwendet: „Trommeln in der Nacht“, „Lebenslauf des asozialen Baal“, […]. In den ersten paar Stücken wurde Musik in ziemlich landläufiger Form verwendet; es handelte sich um Lieder oder Märsche, und es fehlte kaum je eine naturalistische Motivierung dieser Musikstücke. Jedoch wurde durch die Einführung der Musik immerhin mit der damaligen dramatischen Konvention gebrochen […]“[14]

Neben den politisch motivierten Liedern, also des Deutschlandliedes zur Verdeutlichung der nationalistischen Haltung der Balickes (Balicke meint über das Lied: „Das ergreift mich immer wieder.“[15]) sowie die Marseillaise als Ankündigung der Revolution, die Brecht in der zweiten Fassung durch die Internationale ersetzt[16], begleiten auch vor allem religiöse Lieder wie „Ich bete an die Macht der Liebe“ oder Gounods „Ave Maria“ die Handlung. Deutlich wird dabei, dass durch die Lieder ebenso wie bereits beim Bühnenbild bzw. den Plakaten Einfluss auf die Rezeption des Zuschauers genommen wird, das Stück geht also über den Text hinaus und bildet eine Vorform der späteren Verwendung von Musik für Brechts Theater.

Lediglich gegen Ende hin, im vierten Akt, kommen songmäßige Elemente im Stück auf: So singt ‘Der besoffene Mensch’ zwei mal gegen Ende des vierten Aktes die Zeilen:

„Meine Brüder, die sind tot

Und ich selbst wär’s um ein Haar

Im November war ich rot

Aber jetzt ist Januar“[17]

Zwar wird hierdurch die Handlung nicht wie später etwa in der Dreigroschenoper unterbrochen, um das Geschehen zu kommentieren, doch ebenso wie das gleich auf diese Zeilen folgende von Kragler vorgetragene Lied „Ein Hund ging in die Küche“, das jedoch nicht an einem Stück, sondern bis zum Ende des Aktes strophenweise die Trialoge unterbricht, nimmt es Stellung zur Handlung und unterbricht diese zeitweise.

Illusion/Antiillusion

Obwohl Brecht selbst später schreibt, das Mittel der Verfremdung habe ihm nicht zur Verfügung gestanden, kann man zusätzlich zu den bereits genannten Mitteln der Bühnentechnik auch in der Sprache Tendenzen erkennen, die eine antiillusionistische Tendenz erkennen lassen. An mehreren Stellen wird so deutlich, dass manche Äußerungen der Schauspieler auch an das Theaterverständnis der Zuschauer gerichtet sind: Balicke sagt beispielsweise im ersten Akt, um Anna davon zu überzeugen, Murk zu heiraten: „Also mach du nur keine Oper!“[18]. Im zweiten Akt wird wieder auf die Oper angespielt: „Kellner tritt vor[zu Murk]: Waren Sie beim Militär? Murk: Nee. Ich gehöre zu den Leuten, die eure Heldentaten bezahlen sollen. Die Walze ist kaputtgegangen. Babusch: Reden Sie doch keine Oper! Das ist ja ekelhaft. Schließlich haben Sie doch verdient, nicht? […] Balicke: Sehen Sie, das ist es, worauf es ankommt. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Das ist keine Oper. Das ist Realpolitik.“[19]

Gegensätzlich dazu stehen jedoch die steten Anspielungen auf Kraglers ‘gespenstische’ Gestalt: Bei seinem Erscheinen meint er etwa: „Na, was schauen Sie denn so überirdisch? Auch Geld für Kränze hinausgeschmissen? Schade drum! Melde gehorsamst: habe mich in Algier als Gespenst etabliert.“[20] Deutlicher wird es sogar noch später, als Balicke ihm vorwirft: „Sie sind überhaupt nur aus einem Roman. Wo haben Sie ihren Geburtsschein?“[21] oder als ihn die Prostituierte Auguste im Fünften Akt fragt: „Hast du eine Erscheinung?“[22] Diese scheinbar gegensätzlichen Tendenzen lassen sich dadurch erklären, dass er nicht „[…] den Helden der Revolution [verkörpert], den er gar nicht verkörpern will, sondern den Helden des Kriegs als Überlebenden.“[23], wie Konrad Feilchenfeldt meint. Dem stimme ich insofern zu, als dass Kraglers illusionistische Darstellung, die noch dadurch verstärkt wird, dass sich Kragler mit dem exakten Wortlaut vorstellt, den Anna vorausgesagt hatte, seiner Existenz als Kriegsheimkehrer geschuldet ist und an dieser Stelle einen rein inhaltlichen Bezug herstellt, keinen zur dramentechnischen Form, was deutlich macht, dass ein antiillusionistischer Verfremdungseffekt im Stück noch in den Kinderschuhen steckt und nicht durchgängig Verwendung findet.

Der deutlichste Angriff auf die Illusion des Theaters findet sich jedoch ganz am Ende des Stückes, als Kragler in bereits epischer Weise dem Publikum entgegen ruft: „Es ist gewöhnliches Theater. Es sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Fleischbank, die allein ist lebhaftig.“[24] und mit seiner Trommel den Papiermond vom ‘Himmel’ wirft. Erneut spricht er das Publikum direkt an: „Glotzt nicht so romantisch! Ihr Wucherer! Trommelt. Ihr Halsabschneider! Aus vollem Halse lachend, fast erstickend: Ihr blutdürstigen Feiglinge, ihr!“[25] Es ist kaum zu leugnen, dass es sich hierbei um epische Elemente handelt. Das Theater wird als solches enttarnt, die (romantische) Illusion zerstört, was sogar noch durch die Regieanweisungen unterstrichen wird, die an dieser Stelle deutlich machen, dass der Mond „[…] ein Lampion war […]“ und der Fluss „[…] kein Wasser hat.“[26]

Werner Hecht meint zum Thema der Illusion im Stück, dass Brecht „Von vornherein versuchte, […] ein Wirklichkeitsabbild zu geben ohne Illusionen über diese Wirklichkeit, ohne Illusionen über die Möglichkeiten des bürgerlichen Menschen.“[27] Dies ist – wie dargestellt – nur insofern richtig, als dass es zwar deutliche und weniger deutliche Angriffe auf die Illusion der Bühne gibt, jedoch auch in der Gestalt des Kragler diese Tendenzen teilweise revidiert werden.

Emotion

Eine der durchgängigsten Tendenzen des Stückes ist die systematische Zerstörung der Emotionen. Dies kann man einerseits als Parodie auf den romantischen Pathos ansehen, andererseits aber auch als antiillusionistisches Element, das dem Zuschauer die romantische Indentifizierung mit den Personen erschweren soll. Schon im ersten Akt, als Balicke seiner Tochter die (romantische) Erinnerung an Kragler nehmen will und sie von Murk überzeugen will – „Balicke: Na, er [Murk] bringt dich schon rum, er braucht nur gewisse Vollmachten, so was wird am besten in der Ehe geschmissen. Ich kann dir das nicht so erklären, du bist zu jung dazu! Kitzelt sie. Also: es gilt? Anna: lacht schleckig: Ich weiß gar nicht, ob der Friedrich will!“[28] – wird die Vorstellung einer romantischen Liebesbeziehung zerstört, ebenso als Anna Murk anschließend sagt: „Das zwischen uns, das ist nichts!“[29] und Murk sie dann „[…] mit Gelassenheit“[30] küsst. Neben dem Vater, der immer wieder zotenreich die Beziehung zwischen den beiden kommentiert und der sehr unromantisch und merkwürdig geschilderten Liebesbeziehung zwischen Anna und Murk ist beispielsweise auch Annas erste Reaktion auf Kraglers Ankunft, auf den sie vier Jahre lang gewartet hat: „Anna nimmt eine Kerze auf, steht ohne Haltung, leuchtet ihm ins Gesicht: Haben dich nicht die Fische gefressen?“ und kurz darauf „Haben Sie dich nicht ins Gesicht geschossen?“[31] ebenso ’emotionslos’ wie Kraglers Antwort auf Annas Geständnis, sie hätte auf ihn warten sollen: „Kragler: Du hättest eine Photographie gebraucht.“[32] Die Emotion wird zerredet, sobald sie aufkommt. Ein noch drastischeres Beispiel ist das Gelächter aller Personen in der Kneipe, als Kragler Anna seine Liebe gesteht. Das an sich romantische Wiederfinden Kraglers und Annas endet mit Kraglers Worten: „Das Geschrei ist alles vorbei, morgen früh, aber ich liege im Bett morgen früh und vervielfältige mich, daß ich nicht aussterbe.“[33] An diesen wenigen Beispielen wird deutlich, wie jedes emotionelle Moment bewusst zerstört wird, um die Zuschauer an der Einfühlung in die Personen zu hindern. Wiederum wird hier die Tendenz deutlich, dass eine Verfremdung bzw. antiillusionistische Absicht in anderer Form als in den späteren Stücken vorherrscht, man diese Tendenzen aber in ihrer Wirkung dennoch nicht abstreiten kann.

Gestik

Ein Element, das man sowohl in Brechts frühen als auch in den späten epischen Stücken in gleicher Form erkennen kann ist das der Gestik. Für Brecht selbst „[…] zeichnet [der Gestus] die Beziehungen von Menschen zueinander. Eine Arbeitsverrichtung zum Beispiel ist kein Gestus, wenn sie nicht eine gesellschaftliche Beziehung enthält wie Ausbeutung oder Kooperation.“[34] Auch Astrid Oesmann sieht in den „Trommeln“ bereits Brechts spätere gestische Theorie verwirklicht: „Epic components and Gestus combine in a system of internal quotation that constitutes both Kragler’s presence and the presentation of his past. These components, usually associated with Brecht’s later work, serve here the aesthetic fragmentation of the subject.“[35]

Die in den Regieanweisungen angegebene Gestik zeigt besonders an einem Beispiel den Einfluss auf die inhaltliche Ebene: Das Sitzen wird als gestische Metapher für die gescheiterte Revolution benutzt: Balicke meint etwa im zweiten Akt: „Balicke gedämpft: Bring ihn [Kragler] zum Sitzen! Er ist schon halb eingeseift. Im Sitzen gibt es kein Pathos. Laut: Setzt euch alle!“[36] Babusch bringt Kragler daraufhin tatsächlich zum Sitzen, muss ihn jedoch ein zweites Mal niederdrücken, weil dieser erneut aufgestanden ist. Immer wieder im Laufe des zweiten Aktes setzt er sich und steht wieder auf. Als Anna ihn im vierten Akt erneut auffordert, sich zu setzen, bleibt Kragler jedoch in der Tür stehen, was wiederum ein zweites Stilmittel ist, das sich im Stück immer wieder findet und durch das die Zerrissenheit Kraglers zwischen Revolution und kleinbürgerlicher Reaktion verdeutlicht wird. Zugespitzt und parodisiert wird dieses Stilmittel dann im letzten, mit dem Untertitel „Das Bett“ versehenen Akt und Kraglers Worten „Jetzt kommt das Bett, das große, weiße, breite Bett, komm!“[37] Später wird die Symbolik auch auf Murk übertragen: „Murk: Braut! Ist sie das? Ist sie meine Braut? Bricht sie nicht schon aus? Ist er wieder da? Liebst du ihn? Schwimmt die grüne Nuß hinunter? Juckt’s dich nach afrikanischen Schenkeln? Weht der Wind daher? Babusch: Das hätten Sie in einem Stuhl nicht gesagt!“[38]

Außer diesem eher darstellungstechnischen Gestus wimmeln die Regieanweisungen jedoch auch ansonsten von sehr deutlichen und demonstrativen gestischen Anweisungen, die die Intention des Gesagten deutlich unterstreichen. Werner Hecht meint zudem: „Das Gestische, Mimische, auch Akustische lobte Brecht, wenn darin mehr zum Ausdruck, zur Anschauung gebracht wurde, als der bloße Texte besagte.“[39] Dies ist insofern richtig, als dass gestischen Regieanweisungen oft alltägliche Dinge dastellen wie Balickes Rasur am Anfang, das viele Trinken oder das Wasserlassen zweier unbekannter Männer, wodurch eine natürliche, alltägliche Stimmung vermittelt wird, was wiederum einem abgehobenen romantischen Theaterkonzept entgegengesetzt ist.

Fazit

Sucht man gezielt nach epischen Elementen in „Trommeln in der Nacht“, so kann man diese durchaus an vielen Stellen und auf unterschiedliche Art und Weise feststellen: Von den Schildern, die den Zuschauer ihre romantischen Sichtweisen an den Kopf werfen und die Thematik des folgenden Aktes ankündigen über musikalische Unterbrechungen und Einflussnahme auf den Inhalt und die Betrachtungsweise der Zuschauer, die in der Sprache zutage tretende antiillusionistische Tendenz – Kraglers Gestalt ausgenommen – und der Zerstörung der romantischen Emotion hin zur brechtschen Gestik findet sich ein reiches Repertoir an Stilmitteln, die man einem ‘frühen’, noch nicht entwickelten Verfremdungseffekt zuordnen kann. Was die Resultate dieser Arbeit jedoch nicht rechtfertigen ist eine Zuordnung des Stückes in die Reihe der epischen Werke Brechts, insofern widerspricht sie in diesem Punkt nicht der Forschungslage. Selbst wenn viele Tendenzen erstaunlich antiillusionistisch anmuten, so bleiben es Elemente in einem Stück, das an sich nicht die Verfremdung als oberstes Ziel hat und die Handlung über ebenjenes Konzept des epischen Theaters an den Zuschauer heranführt. Zudem steht einer solchen Einordnung in Brechts spätere – marxistisch orientierte – Werke im Wege, dass es keine eindeutige politische Botschaft enthält, was Brecht sebst auch Jahre später an seinem frühen Werk bemängelt. Es fehlt der lehrstückhafte Charakter, das Deutlichmachen bestimmter ökonomischer oder machtpolitischer Strukturen wie etwa in der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ oder dem „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“. Brecht ist in Fragen der Revolution in jenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ebenso zerrissen wie sein Protagonist in den „Trommeln“, Andreas Kragler, der Artillerist aus Afrika.

Bibliographie

Werke und Quellen

Brecht, Bertolt: Trommeln in der Nacht, Frankfurt am Main 1967

Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 15. Schriften zum Theater 1. Über Bühnenbau und Musik des epischen Theaters, Frankfurt am Main 1967

Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 16. Schriften zum Theater 2. Neue Technik der Schauspielkunst. Gestik, Frankfurt am Main 1967

Sekundärliteratur

Feilchenfeldt, Konrad: Bertolt Brecht. „Trommeln in der Nacht“ Materialien, Abbildungen, Kommentar, München, Wien 1976

Hecht, Werner: Brechts Weg zum epischen Theater. Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 bis 1933, Berlin 1962

Kaufmann, Hans (Philologe): Bertolt Brecht – Tragödie, Komödie, Episches Theater, Ost-Berlin 1962

Kaufmann, Hans (Philologe): “Drama der Revolution und des Individualismus: Brechts Drama ‘Trommeln in der Nacht’“,  In: Weimarer Beiträge, VII (1961)

Oesmann, Astrid: The Theatrical Destruction of Subjectivity and History: Brecht’s Trommeln in der Nacht, In: The German Quarterly 70 (1997)

Stern, Guy: Brechts “Trommeln in der Nacht” als literarische Satire, In: Monatshefte 61 (1969)

Van Laak, Lothar: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009

Voigts, Manfred: Brechts Theaterkonzeptionen. Entstehung und Entfaltung bis 1931, München 1977

[1]Bertolt, Brecht: Trommeln in der Nacht, Frankfurt am Main 1967

[2]Siehe hiezu: Lothar Van Laak: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009, S. 187

[3]Konrad Feilchenfeldt: Bertolt Brecht. „Trommeln in der Nacht“ Materialien, Abbildungen, Kommentar, München, Wien 1976

[4]Hans Kaufmann (Philologe): Bertolt Brecht – Tragödie, Komödie, Episches Theater, Ost-Berlin 1962, S. 136

[5]Werner Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater. Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 bis 1933, Berlin 1962, S. 9

[6]Manfred Voigts: Brechts Theaterkonzeptionen. Entstehung und Entfaltung bis 1931, München 1977, S. 58

[7]Guy Stern: Brechts “Trommeln in der Nacht” als literarische Satire, In: Monatshefte 61 (1969), S. 241-260, hier S. 241

[8]Im Folgenden soll hier das Stück – wie in der Forschung üblich – lediglich als „Trommeln“ genannt werden

[9]Hans Kaufmann, “Drama der Revolution und des Individualismus: Brechts Drama ‘Trommeln in der Nacht’“,  Weimarer Beiträge, VII (1961), S. 316

[10]Astrid Oesmann: The Theatrical Destruction of Subjectivity and History: Brecht’s Trommeln in der Nacht, In: The German Quarterly 70 (1997), S. 136-150, hier S. 138

[11]Stern: Brechts “Trommeln in der Nacht” als literarische Satire, S. 251

[12]Brecht: Trommeln, S. 25

[13]Ebd. S. 40

[14]Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 15. Schriften zum Theater 1. Über Bühnenbau und Musik des epischen Theaters, Frankfurt am Main 1967, S. 472

[15]Brecht: Trommeln, S. 14

[16]Sieh hierzu etwa: Stern: Brechts „Trommeln in der Nacht“, S. 250

[17]Brecht: Trommeln, S. 48

[18]Ebd., S. 8

[19]Ebd., S. 30

[20]Ebd., S. 18

[21]Ebd., S. 37

[22]Ebd., S. 52

[23]Feilchenfeldt: Bertolt Brecht. „Trommeln in der Nacht“, S. 95

[24]Ebd., S.59

[25]Ebd., S. 59

[26]Ebd., S. 59

[27]Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater, S. 10

[28]Brecht: Trommeln, S. 10

[29]Ebd., S. 11

[30]Ebd., S. 11

[31]Ebd., S. 24

[32]Ebd., S. 25

[33]Ebd., S. 59

[34]Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 16. Schriften zum Theater 2. Neue Technik der Schauspielkunst. Gestik, S. 753

[35]Oesmann: The theatrical destruction, S. 138

[36]Brecht: Trommeln, S. 27

[37]Brecht: Trommeln, S: 59

[38]Ebd., S. 35

[39]Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater, S. 16