Was ist Erinnerung? – Gedanken zur Rolle des Museums für die Demokratie

Museen sind Speicher, die wie Bücher, Gemälde oder Archive genutzt werden können, um sich der Vergangenheit bewusst zu werden und an diese mit immer neuen Fragen heranzutreten. 

Wenn wir heute auf frühere Krisen zurückblicken, kommen wir also nicht an der Frage vorbei, wie die Informationen über diese überhaupt organisiert liegen. 

Die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann macht darauf aufmerksam, dass die Externalisierung von Gedächtnis immer auch eine „Diskrepanz zwischen dem verkörperten Gedächtnis und dem extern Gespeicherten“ mit sich bringt. In diesem Text finden Sie ein Kurz-Manual bzw. einen Baukasten der aufklärerischen Erinnerung, das bzw. der die Genese dieser Diskrepanz ebenso umreißt wie Perspektiven in deren gegenwärtige und zukünftige demokratische Praxis. 

Bibliotheken oder Serverparks ermöglichen heute eine für das Individuum kaum zu durchdringende Fülle an Informationen und daraus gewebten Geschichten. Don DeLillo nennt diese Erscheinung die „Sandkörnchenunendlichkeit der Dinge, die keiner zählen kann.“ 

Die Entwicklung der systematischen Sammlung und Kategorisierung dieser Informationen, also des Wissens nicht nur über die „eigene“ Gesellschaft, sondern die ganze Welt, also die Praxis des Schlagens von Schneisen durch diesen Urwald der Zeichen – oder um im Bild zu bleiben, der Ausgrabung, des Durchsiebens der Wüste – geht dabei auf die Aufklärung zurück, die verzahnt ist mit der Bürokratie, der „Herrschaft der Schreibtische“ (frz. bureau = Schreibtisch, altgr. krátos = Herrschaft). 

Erste moderne Bürokratien entstanden in Europa im Zuge des Aufbaus und der Finanzierung großer Armeen seit dem 16. Jahrhundert, deren Kosten vor allem durch ihre gegenseitige Konkurrenz immer weiter anwuchsen. Gleichzeitig nutzen dieselben Bürokraten, die die Armeen organisierten, diese Informations-Instrumente dazu, ihre jeweiligen Bevölkerungen zu optimieren, etwa im Sinne des Humanismus, also für mehr Bildung zu sorgen, oder des Republikanismus, also der Schaffung eines Bewusstseins der Staatsbürgerschaft. Ob diese frühneuzeitlichen europäischen Herrscher ihre Ziele erreicht haben oder nicht, sie erschufen gewaltige Bürokratien. Zusammen mit dem gleichzeitigen Aufkommen des Handelskapitalismus und des Protestantismus, der das eigenständige Lesen forderte und förderte, führte diese Bürokratisierung schließlich zur Etablierung einer Druck-Kultur. Im 16. Jahrhundert, nach der Etablierung der Druckerpresse, die durch diese drei Prozesse gefördert wurde, da sie von diesen gebraucht wurde, wurden in Europa schätzungsweise zwischen 150 und 200 Millionen Bücher gedruckt, was einem Verhältnis von drei Büchern pro Einwohner*in entsprach, auch wenn diese natürlich an wenigen Knotenpunkten zentriert lagen. 

Der bürokratische, also kategorische, systematische Weltzugang veränderte die Bedingungen des Feudalismus, der keinen großen Plan hatte, der kein Ziel verfolgte, der eher situativ gewachsen war aus dem chaotischen Ende der Antike, grundlegend. Das neue Denk-System kann mit dem Begriff des „Rationalismus“ gefasst werden. Das ist der Ansatz der Aufklärung: die Vernunft auf die Realität anzuwenden; durch die Vernunft ein Modell, ein System der Realität zu erschaffen, das dem Verständnis und der Verbesserung der Welt dient. 

Nicht zuletzt durch diese stete Verfügbarkeit des Wissens entwickelte sich ein Bewusstsein der Zeitlichkeit der Welt, da die Gegenwart klar von einer Vergangenheit und dadurch einer Zukunft abgegrenzt werden kann. Oder in den Worten von John Stuart Mill, einem Philosophen des 19 Jahrhunderts: „The idea of comparing one’s own age with former ages, or with our notion of those which are yet to come, had occurred to philosophers; but it never before was itself the dominant idea of any age. It is an idea essentially belonging to an age of change. Before men begin to think much and long on the peculiarities of their own times, they must have begun to think that those times are, or are destined to be, distinguished in a very remarkable manner from the times which preceded them.“ (The Spirit of the Age, 1831)

Der zentrale Punkt liegt in der Eigenschaft des Mediums der gedruckten Schrift: sie kann leicht, und zwar identisch, vervielfältigt werden und ermöglicht daher den Austausch zwischen Gruppen von Expert*innen auch über eine große Distanz hinweg. Die Theorien und Modelle der Aufklärung konnten so leicht getestet werden. Das Aufkommen der wissenschaftlichen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts und deren Journale ist eine zentrale Wegmarke in der Entwicklung der Systematisierung der Welt. Aufklärung ist stets Dialog, Austausch zur besseren Theorie, zum korrekteren Modell der Welt und ihrer Bestandteile. 

Das letzte Werkzeug im Baukasten der aufklärerischen Erinnerung ist dann noch der Index, denn all die Informationen, all die Millionen an Werken müssen schließlich auch gefunden werden. Dieser Index ist die Professionalisierung der Gesellschaft in die verschiedenen (und immer verschiedeneren) Berufe. Wenn niemand alle Bücher lesen kann, braucht es Menschen, die sich in verschiedenen Bereichen auskennen und die Informations-Knotenpunkte, etwa die Bibliotheken, verwalten. 

Ein Blick auf die Kolonialreiche und die Diktaturen der Moderne zeigt dabei gleichzeitig, dass das große Projekt der Sammlung und Systematisierung von Wissen über die Welt und deren Bewohner*innen immer auch ein ambivalentes Moment in sich trägt. Das System der massenweisen Aufbewahrung und Klassifizierung von Daten(-sätzen) kann zur Eindämmung von Krankheiten, etwa zur Zeit der Durchführung der Impfkampagnen gegen Covid-19, genutzt werden, aber auch zur Durchsetzung illegitimer Herrschaft wie im Fall der Kolonialreiche. Die Beamten des britischen Raj in Indien fertigten etwa Fotografien der Beherrschten an, auf denen die Vertreter*innen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen abgelichtet und diese Abbildungen mit entsprechenden Vermerken ihrer angeblichen Eigenschaften untertitelt wurden (etwa „von Natur aus ehrlich“ oder „von Natur aus kriminell“). Ins koloniale Nairobi hatte die afrikanische Bevölkerung in den 20er und 30er Jahren nur Zutritt, wenn sie einen entsprechenden Ausweis vorweisen konnte, der ihnen eine Arbeit in der Stadt bescheinigte. Beides sind Beispiele davon, dass ein Element der kolonialen Herrschaft immer dessen Informationsverwaltung war. Der Kolonialismus-Historiker Jürgen Osterhammel schreibt dazu: „Der koloniale Staat musste die Kontrolle über die unterworfenen Völker sichern und die Rahmenbedingungen für die ökonomische Nutzung der Kolonie schaffen. Dies waren seine beiden Hauptzwecke.“ Teilweise wurden sogar Elemente des bürokratischen Staates zuerst in den Kolonien erprobt und danach in Europa eingeführt. Osterhammel dazu weiter: „Ohne Zweifel wies während des 16. Jahrhunderts die spanische Regierungsform in Amerika einen höheren Organisationsgrad auf als die der iberischen Halbinsel; und im britischen Mutterland gab es zum Aufbau des Wohlfahrtsstaates nach 1945 keinen bürokratischen Apparat, der sich nach Umfang wie Professionalität mit der Administration Indiens […] hätten messen können.“ Es wird hier deutlich, dass in dem grenzüberschreitenden Projekt der Aufklärung schon von Beginn an die Ambivalenz liegt, diese Daten-Formationen auch für die europäische Herrschaft über den Rest der Welt nutzbar zu machen. Nicht zufällig flossen Untersuchungen der ersten Anthropologen in die Regierungspraktiken etwa der britischen Kolonialverwaltung im Sudan ein.

Im Fall des Stalinismus dann ergab eine erste gesamtsowjetische Volkszählung von 1926, die unter anderem die Nationalität erfasste, erstmals verlässlich, dass die ethnischen Russen in der Union in der Minderzahl waren. Die Ergebnisse der Untersuchung bestärkten die Machthaber in den 30er und 40er Jahren darin, die muslimischen Kulturen der asiatischen Republiken mit aller Kraft zu verändern bzw. deren Bewohner*innen „umzuerziehen“, was in letzter Konsequenz auch die gewaltsame Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen in die Steppen Zentralasiens während des 2. Weltkriegs bedeutete. 

Die Nationalsozialisten schließlich griffen auf eine lange Tradition der bürokratischen Durchdringung der Gesellschaft zurück und perfektionierten diese in der deutschen Vernichtungs-Maschinerie. Für eine Volkszählung griffen sie sogar auf eine Tabelliermaschine eines deutschen Tochterunternehmens von IBM zurück. Mit diesem frühen Rechner werteten sie Lochkarten aus, eine Karte pro Bürger*in. Eine der Informationen, die darauf vermerkt waren, war „Religion“. Das dritte Loch bedeutet hier „Jude“. Diese Informationen wurden während des Krieges herangezogen, um die Menschen in die Sammelstellen und weiter in die Vernichtungslager zu deportieren. Im Fall des Genozids an den Sinti und Roma nutzten die Behörden dagegen jene Archive, die die katholische Kirche (in welcher die meisten deutschen Roma und Sinti Mitglied waren) besaß und die diese in den meisten Fällen auch ohne Widerstand für diese Zwecke zur Verfügung stellte. 

Diese Beispiele machen deutlich, wie entscheidend eine demokratische Kontrolle über die Informationsmaschinerien ist, die einem jeden modernen, also auch bürokratischen, Staate massenweise zugrunde liegen (muss). 

Ein Museum, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, spielt dabei eine Rolle, denn Erinnerung ist auch nichts anderes als eine Organisation von Informationen. Für eine demokratische Gesellschaft bedeutet das, dass all diese Daten und Erzählungen, auf die wir heute so leicht zugreifen können, auch genutzt werden müssen, und zwar sowohl individuell als auch kollektiv. Erinnerung ist eine Praxis, kein Zustand. Dabei prägt das, woran sich eine Gesellschaft erinnert und wie sie das tut, diese Gesellschaft in der Gegenwart. [Das zeigt nicht zuletzt die Debatte um Europas koloniales Erbe.] Assmann unterscheidet hier zwischen einem „Speichergedächtnis“, also der skizzierten (systematischen) Sammlung des Wissens, und einem „Funktionsgedächtnis“, worunter sie ebenjene Praxis des kontinuierlichen Auswählens aus diesen Speichern versteht. 

Erinnerung ist gleichzeitig immer ein Zusammenspiel von kollektiven und individuellen Praktiken, denn die Gesellschaft besteht aus Menschen und der Mensch ist immer Teil von Gesellschaften. Daher ist auch von Bedeutung, wie jede*r einzelne mit der Erinnerung, z.B. an Krisen-Momente, umgeht.

Maurice Halbwachs, einer der ersten Gedächtnis-Forscher, der in den 1920er Jahren zum „kollektiven Gedächtnis“ forschte, stellte sogar die These in den Raum, der Mensch erinnere sich grundsätzlich in „Gedächtnisgemeinschaften“, aus denen er auch nicht herauskönne, weshalb es kein rein individuelles Gedächtnis geben könne. Dieser Gedanke geht in gewisser Weise komplementär zu Ludwig Wittgensteins Überlegungen dazu, dass es keine Privatsprachen geben könne, weil Sprache etwas Soziales ist, das über Regeln funktioniert, die man überprüfen können muss; wer aber sollte überprüfen, ob jemand eine „Privatsprache“, die ein einzelner Mensch für sich erfunden haben will, „richtig“ anwendet? Wir sind und bleiben, ob wir es wollen oder nicht, soziale Wesen, die, selbst wenn sie es wollten, nicht einmal in eine eigene Sprache flüchten können, also auch in gewisser Weise nie wirklich einsam sein können. Erinnern können wir uns also auch nicht alleine. 

Um eine demokratische Externalisierung von Erinnerung (aber auch ganz allgemein Wissen) zu gewährleisten, kommt es also auf jede*n einzelne*n an. Eine wirklich globale Aufklärung muss sich der hier in aller Kürze angeschnittenen Ambivalenz der Wissensordnung bewusst sein und sie durch Begegnungen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe demokratisch zu nutzen suchen. Dazu ein letztes Mal Assmann: „Bis vor kurzem folgten die Regeln der Auswahl von Bezugspunkten der Vergangenheit dem, was Nietzsche als ‘monumentalische Geschichtsschreibung’ definiert hat; es ging darum, ein heroisches Selbstbild der Gruppe zu konstruieren und es mithilfe von Feindbildern mythisch zu überhöhen. Eine entscheidende Wende vollzog sich in der Vergangenheitspolitik seit den 1990er Jahren, als verschiedene Staaten damit begannen, ihre historische Schuld zu reflektieren und in Formen öffentlicher Bekenntnisse in ihr Selbstbild aufzunehmen.“ Der Weg ist also gezeichnet, es liegt an uns, ihn zu beschreiten/gestalten. 


Quellen: 

Marshal T. Poe: A History of Communications. Media and Society from the Evolution of Speech to the Internet, Cambridge University Press, New York 2011.

Jürgen Osterhammel, Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, C.H. Beck, München 1995.

Aleida Assmann: Gedächtnis-Formen