Das hat man selten gesehen: ein Spielfilm über den Nationalsozialismus, frei von jeder dramatischen Formung des Stoffes; frei von der Figur des Widerständlers (der ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerung war, aber in Filmen über die Zeit trotzdem omnipräsent ist); frei auch von jeder Musik oder überhaupt einer wirklichen Dramatisierung des Stoffs. Keine Dokumentation wohlgemerkt, sondern ein Spielfilm, in dem Schauspieler eine Konferenz nachspielen, die zwar im Ergebnisprotokoll, aber eben nicht im Wortlaut überliefert ist. In die Figurenrede sind Sätze aus diesem Protokoll eingeflochten, ansonsten unterliegt sie jedoch der „artistic license“, orientiert sich aber ungewöhnlich stark am nationalsozialistischen Duktus des Hasses.
Die Reaktionen auf dieses Werk fallen positiv aus, die schonungslose Darstellung findet breites Lob. Aber doch kursiert in der Rezeption des Films auch die Frage, ob die Schreibtischtäter eben nun kalte Bürokraten gewesen seien, denen es im Grunde egal gewesen sei, was für eine Aufgabe sie ausgeführt hätten, wie es in der Taz anklingt: „Denn diese Sorte Täter war und ist in ihrem Handeln auswechselbar,“ (Klaus Hillenbrand: „Ganz normale Bürokraten“, 23.01.2022) aber auch in der SZ, wo Alexander Gorkow und Joachim Käppner schreiben, der Film zeige die Täter “nicht als Monster. Das macht sie so monströs.“ („Ein vollkommen erstaunlicher Film“, 24.01.2022) Oder ob eine solche Beschreibung der Anwesenden lediglich als Bürokraten nicht verkennt, dass sie „Überzeugungstäter in der Sache“ waren, wie ein Nutzer unter der Taz-Rezension schreibt, was verkenne, dass all das ohne diese Überzeugungen eben nie passiert wäre.
Diese Frage erinnert an eigentlich alte Debatten über die Funktionsweise des Nationalsozialismus, die sich von einer Distanzierung und Diabolisierung der Täter in den 1960er Jahren (der Täter als unter Minderwertigkeitskomplexen leidend) über eine „Distanzgewinnung durch Entpersonalisierung und Abstrahierung“ in den 1970er und 80er Jahren (der Täter als „interesseloser bürokratischer Vollstrecker“ und Betreiber von „Todesfabriken“) bis hin zur Wehrmachtsausstellung und dem Disput zwischen Goldhagens Betonung des spezifisch „böswilligen deutschen Antisemitismus“ und Brownings These von der „brutalisierenden Wirkung des Krieges“, also der Schwerpunktlegung auf Mechanismen des Gruppendrucks in den 1990er Jahren entwickelt hatten (vgl. Gerhard Paul: „Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung“).
Zur Beantwortung erscheint es hilfreich, zwei Begriffen auf den Grund zu gehen, die der Verwirrung vielleicht abhelfen können: Was ist Bürokratie? Und was ist eigentlich ein Monster?
Fangen wir mit der Bürokratie an. Diese ist ein Produkt der Frühen Neuzeit. Sie geht einher mit der Entwicklung der systematischen Sammlung und Kategorisierung von Informationen, also des Wissens nicht nur über die „eigene“ Gesellschaft, sondern prinzipiell die ganze Welt. Der Begriff stammt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt „Herrschaft der Schreibtische“ (frz. bureau = Schreibtisch, altgr. krátos = Herrschaft). Erste moderne Bürokratien entstehen in Europa im Zuge des Aufbaus und der Finanzierung großer Armeen seit dem 16. Jahrhundert, deren Kosten vor allem durch ihre gegenseitige Konkurrenz immer weiter anwuchsen. Gleichzeitig nutzen dieselben Bürokraten, die die Armeen organisieren, diese Informations-Instrumente dazu, ihre jeweiligen Bevölkerungen zu optimieren, etwa im Sinne des Humanismus, also für mehr Bildung zu sorgen, oder des Republikanismus, also der Schaffung eines Bewusstseins der Staatsbürgerschaft. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Druckerpresse, die nicht nur von der Bürokratie, sondern auch vom zeitgleich aufkommenden Handelskapitalismus sowie dem Protestantismus gebraucht wird, der das eigenständige Lesen fordert und fördert und die deswegen von allen drei Akteuren gepusht wird (Marshall T. Poe: „A History of Communications. Media and Society from the Evolution of Speech to the Internet”, 2011).
Der bürokratische, also kategorische, systematische Weltzugang verändert die Bedingungen des Feudalismus, der keinen großen Plan hat, der kein Ziel verfolgt, der eher situativ gewachsen ist aus dem chaotischen Ende der Antike, grundlegend. Das neue Denk-System kann mit dem Begriff des „Rationalismus“ gefasst werden. Das ist der Ansatz der Aufklärung: die Vernunft auf die Realität anzuwenden; durch die Vernunft ein Modell, ein System der Realität zu erschaffen, das dem Verständnis und der Verbesserung der Welt dient, wobei unter „Verbesserung“ natürlich je nach Perspektive unterschiedliches gemeint sein kann.
Nicht zuletzt durch diese stete Verfügbarkeit des Wissens entwickelte sich ein Bewusstsein der Zeitlichkeit der Welt, da die Gegenwart klar von einer Vergangenheit und dadurch einer Zukunft abgegrenzt werden kann. Oder in den Worten von John Stuart Mill, einem Philosophen des 19 Jahrhunderts: „The idea of comparing one’s own age with former ages, or with our notion of those which are yet to come, had occurred to philosophers; but it never before was itself the dominant idea of any age. It is an idea essentially belonging to an age of change. Before men begin to think much and long on the peculiarities of their own times, they must have begun to think that those times are, or are destined to be, distinguished in a very remarkable manner from the times which preceded them.“ (The Spirit of the Age, 1831)
Der zentrale Punkt liegt in der Eigenschaft des Mediums der gedruckten Schrift: sie kann leicht, und zwar identisch, vervielfältigt werden und ermöglicht daher den Austausch zwischen Gruppen von Expert*innen auch über eine große Distanz hinweg. Die Theorien und Modelle der Aufklärung können so leicht getestet werden. Das Aufkommen der wissenschaftlichen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts mit ihren Journalen ist eine zentrale Wegmarke in der Entwicklung der Systematisierung der Welt. Aufklärung ist stets Dialog, Austausch zur besseren Theorie, zum korrekteren Modell der Welt und ihrer Bestandteile. Gefunden werden die gesuchten Informationen schließlich durch den Index. Dieser ist die Professionalisierung der Gesellschaft in die verschiedenen (und immer verschiedeneren) Berufe. Wenn niemand alle Bücher lesen kann, braucht es Menschen, die sich in verschiedenen Bereichen auskennen und die Informations-Knotenpunkte, etwa die Bibliotheken, verwalten.
Ein Blick auf die Kolonialreiche und die Diktaturen der Moderne zeigt, dass das große Projekt der Sammlung und Systematisierung von Wissen über die Welt und deren Bewohner*innen immer auch ein ambivalentes Moment in sich trägt. Das System der massenweisen Aufbewahrung und Klassifizierung von Daten(-sätzen) wird etwa von den Beamten des britischen Raj in Indien genutzt, indem sie Fotografien der Beherrschten anfertigen, auf denen die Vertreter*innen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen abgelichtet und diese Abbildungen mit entsprechenden Vermerken ihrer angeblichen Eigenschaften untertitelt werden (etwa „von Natur aus ehrlich“ oder „von Natur aus kriminell“). Im 20. Jahrhundert setzen sowohl der Stalinismus als auch der Nationalsozialismus Volkszählungen für ihre jeweiligen Bevölkerungsumbauten ein. Die Nazis greifen dafür sogar auf eine Tabelliermaschine eines deutschen Tochterunternehmens von IBM zurück. Mit diesem frühen Rechner werten sie Lochkarten aus, eine Karte pro Bürger*in. Eine der Informationen, die darauf vermerkt sind, ist „Religion“. Das dritte Loch bedeutet hier „Jude“. Diese Informationen werden während des Krieges herangezogen, um die Menschen in die Sammelstellen und weiter in die Vernichtungslager zu deportieren.
„Die Wannseekonferenz“ zeigt die komplexen Strukturen der Bürokratie im NS-System so eindringlich wie selten. Was der Film besonders deutlich macht ist jene Seite der nationalsozialistischen Herrschaft, die in einem weit verbreiteten Bild der NS-Herrschaft, das diese absolut zeichnet, als eine Gesellschaft, in der „die Nazis“ als ein monolithischer Block die Gesellschaft beherrschen, meist fehlt. Dass eben trotz all der Willkür, trotz allem Diktatorischen bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ Gesetze galten, das will irgendwie nicht zusammenpassen. Einer der Anwesenden der Konferenz, Dr. Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, löst diesen scheinbaren Widerspruch im Film so auf, dass er erklärt, die „einfachen Menschen“, diejenigen, die aus „anderem Holz“ geschnitzt seien als die Anwesenden, wie es ein anderer Teilnehmer an anderer Stelle ausdrückt, die bräuchten eben Recht und Gesetz, um nicht die Orientierung zu verlieren. Vielleicht fällt es auch deswegen in den meisten Filmen über den Zweiten Weltkrieg so schwer, die inneren Widersprüche und Machtkämpfe des NS-Systems zu zeigen, weil sie im Kontrast zu den Kriegsgegnern eben nicht mehr so relevant erscheinen.
Selten hat man das jedenfalls so eindrücklich gesehen wie in diesem Film. Und vielleicht kann ein Film das auch nur, wenn er quasi auf jegliches Drehbuch verzichtet, da er sich ja an dem überlieferten Protokoll orientiert. Denn Spielfilme wollen ja für gewöhnlich nicht nur finstere Bürokraten des Massenmords zeigen, sie wollen zumindest eine Figur einbauen, die ambivalent ist, mit der doch irgendwie zumindest noch ein bisschen Empathie möglich ist. Persian Lessons ist so ein Film. Lars Eidinger spielt darin den SS-Hauptsturmführer Klaus Koch, der einen Juden rettet, der sich als Perser ausgibt in der Absicht, dadurch am Leben zu bleiben, dass er Koch ein – fiktives – Persisch beibringt. Nachdem der SS-Mann die Lüge enttarnt, schickt er den Gefangenen zwar zunächst in den Steinbruch, entschuldigt sich dann aber bei ihm und rettet ihm das Leben, indem er ihn während eines Abtransports in einem Bauernhof versteckt. Am Ende desertiert Koch zusammen mit seinem falschen Lehrer. Koch wird „als Mensch“ gezeigt, also mit Stärken und Schwächen. Und es wird eine Entwicklung an ihm sichtbar. So wie das bei Oskar Schindler der Fall ist, der eben erst am Ende des berühmten Films „Schindlers Liste“ beklagt, dass er nicht noch mehr Menschen gerettet hat. Und dass eine Figur eine Entwicklung durchmachen muss, ist schließlich das kleine eins mal eins der Narratologie. Oder wer taucht am Ende von Roman Polańskis „Der Pianist“ auf? Ein deutscher Offizier, der ein gutes Herz besitzt und dem im besetzen Warschau untergetauchten Protagonisten etwas zu essen bringt.
„Die Wannseekonferenz“ ist ein dokufiktionales Kammerspiel, das eindrücklicher wirkt als eine Dokumentation, vielleicht gerade weil es nichts dieser klassischen, immer auch unterhalten wollenden Spielfilme hat, auch überhaupt keine Filmmusik etwa.
„Die Wannseekonferenz” erregt wohl deswegen eine so große Aufmerksamkeit, weil er eben so anders ist als diese klassischen Spielfilmen über das Thema. Diese neue Art der Darstellung erfüllt dabei in Bezug auf unser Verständnis dieser Zeit eine wichtige Rolle. Endlich sehen wir den Nationalsozialismus einmal eindrücklich in all seiner Geordnetheit, seiner Bürokratie eben. Endlich können wir einmal mit einem wirklichen Gefühl des Realismus scheinbar beiwohnen, wie höflich die Herren der „Endlösung“ miteinander umgehen. Dass das keine Fremden, keine ungewöhnlichen Menschen sind, die mit dem Rest der Bevölkerung nichts gemein hätten, wie es das genannte Täterbild der 1960er Jahre etwa vermitteln wollte, so sehr sie sich auch über die einfachen Menschen hinwegsetzen, sondern dass das Menschen sind, die ganz und gar aus der deutschen Kultur erwachsen sind und im Bewusstsein der Verteidigung dieser ihr furchtbares Tagwerk verrichten. Am eindrücklichsten aber zeigt es vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse über den Nationalsozialismus überhaupt: dass die größte Gefahr nicht von den Schlägertrupps ausgeht, so sehr diese die Demokratie auch bedrohen und so wichtig sie auch für die Errichtung des Terrorapparats waren, etwa in Form der frühen Konzentrationslager. Nein, es sind die Herren mit den Doktortiteln, es ist die rechte Studentenschaft, die die über die Niederlage im Weltkrieg erzürnten und verbitterten Deutschen hervorgebracht haben, von denen die wahre Gefahr ausgeht. Es sind die Menschen, die in bester bürokratischer Manier ihr Handwerk erlernt haben, die fleißig sind, die sich tugendhaft fühlen, die ihre Taten zwar manchmal selbst „barbarisch“ nennen, nur um sie aber im gleichen Atemzug zu rechtfertigen, nein sie eben zu moralischen Taten zu erheben. Denn, wie Harald Welzer in seinem Text „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ ausführt: die wenigsten Menschen sehen sich oder stellen sich selbst als böse wahr, die Nazis gehörten jedenfalls nicht dazu. „Es scheint einen grundlegenden Widerstand von Menschen dagegen zu geben, als ‚schlecht‘ zu gelten, und noch der skrupelloseste Verbrecher scheint aller Erfahrung nach größten Wert darauf zu legen, in irgendeiner Facette seiner Persönlichkeit als ‚menschlich‘ wahrgenommen und nicht jenen Kategorien von Personen zugeordnet zu werden, die sich selbst verabscheuen.“ (Welzer S. 29f.) Die Figuren im Film betonen ja auch immer wieder, dass sie die Aufgabe, die “das Schicksal“ ihnen auferlegt habe, ausführen, weil es eben notwendig, also richtig sei, selbst wenn andere davor zurückschrecken würden. „Es geht hier um die Verkoppelung von Töten und Moral, und es ist diese Verkoppelung zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit unangenehmer Handlungen und dem Gefühl, diese als notwendig angesehenen Handlungen gegen das eigene mitmenschliche Empfinden auszuführen, die den Tätern die Möglichkeit gab, sich noch im Morden als ‚anständig‘ zu empfinden, als Person, die – um Rudolf Höß zu zitieren – ‚ein Herz hatte‘, die ‚nicht schlecht war.‘“ (Welzer S. 23)
„Sie sind ein Mann von Bildung“, meint ein Ministerialdirektor aus der Reichskanzlei anerkennend zu einem jungen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland, der dort an den Massenerschießungen beteiligt ist, als dieser weiß, wer Max Liebermann ist, der in der Nähe gewohnt hat: „Jüdischer Impressionist.“ Worauf dieser nur antwortet: „Und das überrascht sie. Angesichts meiner Aufgaben im Osten.“
Diese Höflichkeit hat Welzer “partikulare Moral” genannt: jeder Mensch braucht Moralvorstellungen, und gerade auch die Nazis wollen eben nicht unmoralisch oder unhöflich per se wirken, im Gegenteil. Sie entscheiden sich eben dazu, nur zu bestimmten Menschen alle Moralvorstellungen abzuschalten bzw. diese sogar insofern umzudrehen bzw. auf den Kopf zu stellen, als dass sie erklären, die einzig moralisch richtige Art und Weise, wie mit diesen Menschen umgegangen werden kann, sei die Ausgrenzung aus dem „Volkskörper”. Das wird etwa auch in einer Szene in der Fernsehserie “Babylon Berlin” deutlich, in der ein SA-Mann über einen Bahnsteig rennt, um zu einem Mob zu gelangen, der einen Juden anschreit. Als er aus Versehen eine Frau anrempelt, entschuldigt er sich höflich, nur um sich sofort wieder auf den Weg zu machen, seinen Hass auszuleben.
Gegen „Die Wannseekonferenz“ verblassen alle Bösewicht-Filme, so verständlich ihre Zeichnung des NS-Grauens auch sein mögen, als zwar stärkere Geschichten, aber eben weniger erklärmächtige Werke, die das Verständnis der deutschen Verbrechen mehr verhindern als ermöglichen, weil sie eben in die Falle tappen, die viele Schuldige den Nachgeborenen gelegt haben: wenn man die Täter der SS als Sadisten darstellt, die eben einfach ihre Gewaltfantasien ausgelebt haben: dann war der Nationalsozialismus doch eher eine Psychose, ein Verbrechen von geistig Kranken, und diese Kranken können ja nicht verantwortlich sein, da ihre Krankheit sie zu ihren Taten getrieben hat.
„Die Wannseekonferenz” zeigt also eindrücklicher als Spielfilme es sonst vermögen, wie normal diese Herren waren. Dass sie effiziente, höfliche Geistesmenschen waren, die Projekte angehen und sich dabei ihrer geistigen Fähigkeiten bedienen und alle nur möglichen Ressourcen aufbringen, um ihr Ziel zu erreichen. In dieser Hinsicht sind sie absolut modern, denn sie denken nur in Kategorien der – aus ihrer Perspektive – Verbesserung der Gegenwart, also im klaren Bewusstsein der zeitlichen Veränderung, in einem Verständnis einer von ihnen selbst, nicht irgendeiner Gottheit, formbaren Zukunft. Und das ist natürlich das Bedrohliche an ihnen. Wir fühlen uns diesen Menschen zwar nicht in ihren Zielen nahe. Aber wir erkennen unser Denken in Projekten, unseren Anspruch auf Bildung, unseren Drang nach Effizienz in ihnen wieder. Aber – an dieser Stelle darf man eben nicht wie Hannah Arendt in die Falle tappen, die Eichmann gelegt hat, als er sich während des Prozesses in Jerusalem als unideologischen Bürokraten dargestellt hat – sie sind eben angetrieben von einem ganz und gar irrationalen Hass, der den Mythos sucht bzw. erfindet, weil die wahren Zusammenhänge zu schmerzhaft sind für das kollektive Ego der „Übermenschen“ und den sie sich selbst ausgedacht haben.
Die Besonderheit dieser neuen deutschen Ästhetik der schonungslosen, vollkommen unromantischen Darstellung, die vielleicht als ein vorläufiger Höhepunkt der vielbeschworenen deutschen Erinnerungskultur gesehen werden kann, die sich gegen jene „heroische“ Geschichtsschreibung wendet, von der Nietzsche sprach und die eben die Nationalsozialisten in ihrem Märtyrerkult um die Weltkriegsgefallenen oder die Toten des Münchner Putsches begingen, wird umso deutlicher, je mehr man sie im weltweiten Vergleich sieht. Mit Christopher Nolans “Dunkirk”, einem der erfolgreichsten Filme über den Zweiten Weltkrieg der letzten Jahre, steht dieser Täterschau eine Durchexerzierung der besten Qualitäten des zeitgenössischen Kinos gegenüber, die das Publikum nicht zum Nachdenken anregt, sondern es überwältigen will, also eine alles andere als schonungslose Offenlegung des Grauens jener Zeit. Nolan spult mit einem hypnotisierend mitziehenden Soundtrack als einem seiner mächtigsten Hilfsmittel das Publikum in einer Geschwindigkeit durch die Strände der Kanalküste, die einem den Atmen verschlägt. Sein Film ist ein Schlachtengemälde, in dem man viele verschiedene Akteure beobachten kann, deren Vorgeschichten man aber kaum bis gar nicht erfährt und die daher ebenso wenig eine Entwicklung durchmachen wie es die Akteure in der Villa am Großen Wannsee tun. Nolan erzählt ein Heldenepos, er zeigt junge Männer, die so unschuldig und jung sind, dass jeder im Publikum sich wohl leicht in sie hineinversetzen und mit ihnen fühlen kann. Mit den Herren in der Villa am Wannsee will sich dagegen hoffentlich niemand identifizieren.
Der entscheidende Unterschied aber ist natürlich nicht, wie leicht es fällt, sich mit den Figuren emphatisch zu zeigen, das liegt schließlich in der Natur der Wahl der zu inszenierenden Kriegspartei begründet. Nein, es ist die Geschwindigkeit, es ist die Überwältigung, die zu benutzen sich deutsche Filmemacher in Werken über Wehrmacht und SD zu benutzen wohl nie trauen würden. Wohl mit gutem Grund.
Es hat lange gebraucht, bis mit einem solchen Film in deutschen Wohnzimmern der Ekel und die Abscheu vor den finster grinsenden deutschen Tätern einem Schaudern über die lächelnde Höflichkeit gewichen ist, mit der die Herren Doktoren in diesem schönen Haus mit den historistischen Wandgemälden sich, mit angenehmen „Frühstücks“-Pausen, über die Neugestaltung Europas austauschen, die fortan nicht nur auf ihren eigenen Schreibtischen stattfinden wird, sondern auch denen von Millionen normalen Deutschen, die ihr Werk mit derselben Präzision durchführen werden.
Es stimmt irgendwie beides: einerseits brauchte es überhaupt erst Männer wie Heydrich, die diese Ideen entwickelten und diese mit ihrer außergewöhnlichen Energie in die Tat umzusetzen suchten. Geprägt waren diese Menschen von einer toxischen Verbindung: eine vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Vorstellung des deutschen „Herrenmenschentums“, der Vorstellung deutscher Größe und Weltgeltung, deren reale Bezüge etwa in den deutschen Nobelpreisen in den Naturwissenschaften oder den Exportziffern der Maschinenbauer ablesbar waren, deren irrationale Phantasien gleichzeitig im entstehenden völkischen Antisemitismus und den unter anderem aus dem Kolonialreich abgeleiteten Vorstellungen der unterschiedlichen menschlichen „Rassen“ oder „Entwicklungsstufen“ zu finden sind; und schließlich der Widerlegung dieser angeblichen Überlegenheit, wofür irgendein Schuldiger gefunden werden musste – die Dolchstoßlegende war geboren, die in Italien, dem zweiten späten Nationalstaat aus den im Mittelalter starken Stadt- und Kleinstaaten, in der Rede vom „verstümmelten Sieg“ ihr Pendent hat. Andererseits mussten gar nicht alle Bürokraten aus Überzeugung handeln, solange die Spitzen ihrer Behörden ihnen entsprechende Befehle gaben und sie diese eben ausführten. Das kann man dann als den von Heinrich Mann so gelungen porträtierten deutschen Untertanengeist bezeichnen (“Wer treten wollte, musste sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht“, Der Untertan).
Was uns zur zweiten Frage bringt: der über die Natur des Monsters.
Monster sind Kreaturen, deren Schuldfähigkeit überhaupt nicht gestellt werden kann, und folglich nie gestellt wird. Sie können einem insofern also fast Leid tun, da sie über keinen freien Willen zu verfügen scheinen, für den die Zurechnungsfähigkeit, also auch das zumindest theoretische Erkennen des Verbrecherischen, der Untat, ja eine Vorraussetzung ist.
In der Literatur tauchen Monster nach ihrer „Geburt“ in den antiken Mythen vermehrt seit dem 17. Jahrhundert auf. „Sie sind in gewisser Weise Geschöpfe der europäischen Aufklärung, die den Menschen als Vernunftwesen definierte.“ (Sabine Kyora: „Die ganze scheußliche Kreatur“. Monster in der modernen Literatur und im Film, ApuZ 52/2013) Der Grusel vor ihnen stellt dabei laut Kyora ein ambivalentes Gefühl dar: man fürchtet sich vor den Monstern, weil sie die Vernunftordnung bedrohen, aber sie faszinieren auch, weil sie all dasjenige verkörpern, das die Vernunft ausschließt, das aber doch auch zum Menschen gehört.
In einem der großen Epen der Moderne, Tolkiens „Herrn der Ringe“, in dem die guten Hobbits aus den natürlichen Höhlen gegen proto-industrielle böse Mächte kämpfen, die Bäume fällen, um sie als Rohstoffe für ihre Hochöfen zu nutzen, in denen sie die Rüstungen schmieden, mit denen ihre Monster zu Felde ziehen, sind Monster allgegenwärtig. Am präsentesten sind Kreaturen, die Orks und Uruk-Hai genannt werden. Sie kämpfen für ihre Herren, ohne dass sie deren Motive auch nur in Frage stellen könnten. Dieser fehlende Wille wird auch im Umgang der anderen Bewohner Mittelerdes gegenüber diesen Monstern deutlich: es gibt keinen anderen Weg als sie zu töten. In einer Szene in der Verfilmung von „Der Hobbit“, der Vorgeschichte zum „Herrn der Ringe“, wird ein gefangen genommener Ork vor den Elbenkönig Thranduil geführt. Der König verspricht dem Ork das Leben, wenn dieser ihm eine wichtige Information liefert. Obowhl dieser das tut, lässt der Elbenherrscher den Gefangenen köpfen. Ein Versprechen, ein moralischer Vertrag, besitzt keinen Wert, wenn er mit einem Monster getroffen wird.
Tolkien hat sich immer wieder unterschiedlich zur Herkunft der Orks geäußert. Eine Assoziation, die er selbst dabei hergestellt hat, war die zum Golem, jenem Mythenwesen aus dem jüdischen Prag, das ebenso willenlos wie die Orks die Aufträge ausführt, die der Rabbi ihm in Form eines kleinen Schriftstücks in den Mund legt. Der Golem ist ein anschauliches Symbol jener Idee der Maschine, die lange vor der Erfindung der Dampfmaschine existierte (vgl. hierzu Martin Burckhardts „Philosophie der Maschine“, in der dieser die Maschinenmetapher als „Unterbewusstes der Philosophie, ja der abendländischen Kultur überhaupt“ beschreibt), nicht zuletzt in der Figur des „Deus ex machina“, jenes Gottes also, der im antiken Theater am Ende des Stücks vor den Vorhang tritt und die Geschichte auflöst. Es ist eine Idee jener Ambivalenz, die der Technologie und der Bürokratie innewohnt, denn während er zunächst erschaffen wird, um die jüdische Gemeinde vor Übergriffen zu schützen, kann er eben auch zerstörerische Kräfte entwickeln, etwa als eine Frau ihm aufträgt, Wasser ins Haus zu transportieren, was er so lange macht, bis das Haus überflutet ist. Ganz im Sinne von Goethes wahrscheinlich von dieser Episode inspiriertem Zauberlehrling, der die berühmte Formel prägte: “Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los.“
Für die Nationalsozialisten waren „die Juden“ gerade nicht solche „Monster“, denn sie gaben ihnen ja die Schuld für alles mögliche, allem voran die Niederlage im Weltkrieg. Schuld kann man aber nur jemanden zuweisen, der sich auch schuldig machen, also willentlich handeln kann. Orks wären in diesem Bild für die Nationalsozialisten eher „naive“ Demokraten oder Sozialisten, die nicht verstehen, dass sie „in Wahrheit“ nur die „jüdische Weltverschwörung“ vorantrieben. Paradoxerweise – und über solche aus rationaler Sicht widersprüchlichen Thesen stolpert man ja ständig, man denke nur an die angebliche jüdische Kontrolle des Kapitalismus und des Sozialismus –, kann aus Sicht der Nazis aber nur diesen ihre „Sünde“ vergeben werden, wenn sie etwa aus einem Konzentrationslager entlassen werden, wo sie „gebüßt“ hatten. Diese Möglichkeit wurde den „rassisch“ Verfolgten in letzter Instanz nie gewährt, für sie war nur der Tod vorgesehen. Woran man wieder erkennen kann, wie der Rassismus der Nationalsozialisten alle Verhältnisse durchdringt und das Denken in „Rassen“ immer die letzte Instanz darstellt, Widerspruch hin oder her.
Wenn das Monster also mit einer zerstörerischen Naturkraft, einem Erdbeben oder Tsunami gleichzusetzen ist, was ist dann eine monströse Tat, von der die Autoren des SZ-Artikels sprechen?
Die Unterscheidung „Monster“ gegen „monströs“ etabliert sich tatsächlich in der Naturwissenschaft seit der Aufklärung: erstere werden endgültig als Wesen der Imagination abgetan, während letztere Bezeichnung etwa zur Beschreibung der Kategorie „Missbildung“ bei Menschen oder Tieren herangezogen wird. Die Monstrosität ist also der messbare Rest der unerklärlichen Naturschrecken, sie ist eine Abweichung von der beruhigenden, da unauffälligen Norm, die vielleicht daran erinnert, dass die Norm-alität immer ein sozial hergestellter Zustand ist, der einer steten Korrektur bzw. einem ewigen Eingriff in die Köpfe der Menschen bedarf, um fortzubestehen. Weicht etwas zu stark von der Norm ab, greift der Mensch zur Erklärung dieser Divergenz so eben manchmal instinktiv auf ein Bild zurück, das ursprünglich als Verarbeitung unerklärlicher Naturkräfte diente.
Insofern ist die Kategorisierung der Taten der Herren aus dem Reichssicherheitshauptamt und ihrer Verbündeter in allen deutschen Instanzen als monströs dann auch irgendwie doch nachvollziehbar, denn der bereits erwähnte verlorene Weltkrieg hat in Kombination mit den ohnehin zerrüttenden, entwurzelnden und entfremdenden Kräfte der Moderne eben eine Jugend – oder genauer einen Teil der Jugend, der aber entscheidend war – hervorgebracht, denen die Werte der Aufklärung und des Humanismus, so wenig diese auch etwa den europäischen Kolonialismus haben verhindern können, nichts mehr bedeuteten, oder eben nur das, was sie daraus für ihr Weltbild und das daraus entstandene Projekt des sozialdarwinistischen „Rassenkampfes“ nutzen konnten. Die Vermittlung dieser Werte ist schließlich kein Selbstläufer, jede Generation müssen sie aufs Neue gelehrt werden. Die Rede vom „monströsen“ ist nachvollziehbar, weil die monströse Tat so verstanden eben ein Akt der Zerstörung ist, der einen so großen Abscheu hervorruft, weil sie so sehr von den eigenen Normen und Wertvorstellungen abweicht, dass man sich mit dem Hilfsmittel des Gegensatzes von „Gut“ gegen „Böse“ behilft. Mit dieser Dualität ist aber grundsätzlich nichts gewonnen, denn sie hat keinerlei erklärerischen Mehrwert. Er befreit uns vielmehr von der Aufgabe der Analyse, die Unangenehmes über die Conditia Humana offenlegen könnte, weil sie so wenig in das Muster unserer seit jeher erzählten Geschichten passt, den „Heldenreisen“ (Joseph Campbell), in denen ein Held in die Welt auszieht, mit einer Aufgabe betraut wird, nämlich eine böse Kraft zu zerstören, nur um am Ende auch tatsächlich gegen diese zu obsiegen. Er ist eine naheliegende Erklärung für die komplexen Strukturen, die der homo sapiens hervorgebracht hat. Aber dieser Gegensatz hilft uns nicht dabei, diese zu verstehen. Die Rede vom „Monströsen“ scheint insofern nur dann legitim, wenn sie eben als eine solche Metapher der Normabweichung verstanden wird, als einen instinktiven Rückgriff auf ein Bild, das eigentlich als Verarbeitung unerklärlicher Naturkräfte diente und insofern ein Ausdruck der Qualität des Schreckens über die Divergenz ist.
In Kafkas „Der Verschollene“, jenem Fragment gebliebenen Roman, den Max Brod als „Amerika“ herausgegeben hat, gibt es eine Beschreibung eines Schreibtisches, der im Zimmer des erst vor kurzem aus Mitteleuropa nach New York gelangten Protagonisten steht. Es ist aber nicht irgendein Schreibtisch, nein: er hat beinahe magische Kräfte. Der Tisch hat “in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe, und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durch Drehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen, und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich.“
Ein schönes Sinnbild vielleicht für die Ambivalenz der sozialen Praktiken, die aus der Technologie-Sammlung hervorgehen können, die die Grundlage bilden für die „Herrschaft der Schreibtische“. In den Händen von Menschen wie den im Film Gezeigten dienen sie dazu, die Möglichkeitsräume der Moderne nach einem verlorenen Weltkrieg zu den Gedankenspielen ausreizen, den Topos der „Rassenhygiene“, wie die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit verbreitete Bewegung der Eugenik in Deutschland bezeichnenderweise hieß, in eine mörderische Konsequenz zu Ende zu denken und mit den Mitteln, die ihnen ebendiese Möglichkeitsräume bieten, auch auszuführen. Dann stecken in den sich drehenden Fächern immerneue Ideen der Ausgrenzung, der Grenzziehungen und der Architekturen der Überwachung und des „Todes durch Arbeit“, wie die Nationalsozialisten das nannten. Aber, so sehr die „Bürokratisierung“ heute als innovationshemmend oder – oft mit Verweis auf Kafkas „Process” – entmenschlichend kritisiert wird: der Sozialstaat ist ohne sie nicht denkbar. Der Schutz von Kindern etwa gegen gewalttätige Eltern ist ohne sie unmöglich. Der Kampf gegen neonazistische Bewegungen wird auf Schreibtischen und mit Aktenordnern – oder eben ihren digitalen Pendants – ebenso geführt wie jener gegen den Klimawandel. Es gibt kein Zurück hinter die Herrschaft der Schreibtische. Wer hinter ihnen herrscht, darauf kommt es an. Wie diese erzogen wurden, an welchen Werten sie sich orientieren. Denn, das hat der Fall der „Demokratie ohne Demokraten“ gezeigt, eine Verfassung alleine macht noch keine Demokratie.
„Die Wannseekonferenz“ ist noch bis Anfang 2024 in der ZDF Mediathek zu sehen.