Die Dichotomien scheinen klar. Vergangenheit und Natur auf der einen Seite, Zivilisation, Moderne und Gegenwart auf der anderen. Dennoch verbirgt sich in dieser Beschreibung einer Reise von Europäern in den Kongo aus Joseph Conrads „Heart of Darkness“, einem der großen Klassiker der Kolonial-Literatur, eine andere Lesart der Welt. Einer, in der Bäume zwar keine Könige, aber gleichberechtigte Mitglieder im „Parlament der Dinge“ sind, ohne die oder besser deren Erhalt – wie uns heute mehr als je bewusst ist – die vermeintlich der Natur gegenüberstehende Menschheit mit ihrer Kultur nicht überlebensfähig ist.
„Going up that river was like traveling back to the earliest beginnings of the world, when vegetation rioted on the earth and the big trees were kings. An empty stream, a great silence, an impenetrable forest. The air was warm, thick, heavy, sluggish. There was no joy in the brilliance of sunshine.“
Diese Formel, die Welt, oder gleich der Kosmos, als „Parlament“, stammt vom französischen Philosophen Bruno Latour, dessen These, dass der Mensch nicht nur auf die Natur angewiesen, sondern gar nicht getrennt von dieser gedacht werden sollte bzw. kann, die Ausstellung „Down to Earth“ im Martin-Gropius-Bau begleitet auf eine Erkundungsreise, an dessen Ende aber nicht der stille und undurchdringliche Anfang der Welt liegt, sondern Ideen ihrer Zukunft.
Latour hat die Schau dabei nicht allein mit seinen Werken inspiriert, sondern war bzw. ist an dessen Konzeption aktiv beteiligt. Diese kann dementsprechend gelesen werden als Abarbeitung an zwei seiner zentralen Kritik-Punkte an unserer Moderne, bzw. vielmehr dem, was wir dafür halten. Zum einen bestünde das „Projekt Moderne“ (Habermas) in der Praxis der „Reinigung“, also eben der steten Abgrenzung von Mensch und Natur, zum anderen betreibe die Moderne – und zwar gerade durch diese Praktiken – eine „Übersetzung”, also eine Vermischung dieser beiden Zonen, wodurch „Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur“ entstünden. Da die Moderne aber diese Vermischung nicht als solche begreifen und benennen konnte, weil diese eben dem Gedanken der Trennung entgegen läuft, seien wir – so paradox das klingen mag – bisher nie modern gewesen.
Leitthema der Ausstellung „Down to Earth“ ist also das Klima, und wie es gedacht werden kann, sind also wir als Teil eines Systems, das die Natur immer mit einschließt. Die verschiedenen Beiträge gehen dafür oftmals tief zurück in die Vergangenheit, besonders der europäischen Imperien. Welche Bedeutung diese anfangs literarisch zitierte Epoche für die Auseinandersetzung um Wissenschaft, Politik und Klima besitzt, wird etwa in der Installation von Filipa César und Louis Henderson deutlich. Die beiden haben auf einem Tisch Bilder und Texte versammelt, die die Verbindung von optischen Technologien mit kolonialen Praktiken in einem breiten zeitlichen Bogen bis in die Gegenwart beschreiben. Durch die darüber gelegten, oft in Fragmente geschnittenen Glas-Linsen wird dem Werk zudem der Aspekt der Erkenntnistheorien der Aufklärung hinzugefügt, deren Verbindung mit den europäischen Entdeckungsreisen und Expansionen so geschickt zur Debatte gestellt wird. Wobei wir wieder bei der neu-modernen Wahrnehmung wären: der Ozean darf, so wird es in einem mit CO2-sparender Algae Ink gedruckten Begleitheft aus Recyclingpapier erklärt, nicht als Trennendes verstanden werden, sondern als Verbindendes: „Die Meere dienten als flüssige Oberfläche, über die sich koloniale Absichten rund um den Globus ausbreiten.“
Dazu passen die auf Satellitenaufnahmen basierenden Bilder des atlantischen Ozeans des Fotographen Andreas Gursky, die so gedreht sind, dass unsere gängige Darstellung um 45 Grad verschoben erscheint, wodurch das Wasser ganz plastisch in den Mittelpunkt rückt, ins Zentrum der Wahrnehmung, wie es das eben in der Klimawandel-Debatte tut.
Einen ähnlichen Effekt rufen die Fotos von Agnes Denis hervor, in denen wir unter der Skyline New Yorks Weizenfelder rauschen sehen, ohne die die Wolkenkratzer eben in Latour’scher Lesart nicht denk-bar sind. Die Künstlerin hatte in den 80er Jahren auf einem zwei Hektar großen Stück Land das Getreide ausgesät, die Ernte wurde anschließend in die ganze Welt geschickt.
Dass „Down to Earth“ nicht einfach eine Kunst-Schau ist, wird am deutlichsten aber in einem „Working Space“ betitelten Raum im Zentrum der Ausstellung. Hier liegt neben Lektüre- und Arbeitstischen ein Interview in Plakat-Größe zum Mitnehmen aus, in dem Lautour und die französische Theaterregisseurin Frédérique Aït-Touati, die gemeinsam an der Ausstellung gearbeitet haben, ihre Ideen vorstellen.
Als eine ihrer Inspirationsquellen benennen sie darin Brechts „Das Leben des Galilei“. Das 1939 im dänischen Exil verfasste Stück zeigt den Wissenschaftler zwar, ganz entgegen des Latour’schen System-Denkens, als großen Mann, als individuelles Genie. Wichtiger aber ist, dass Brecht hier die Verflechtung von Politik und Wissenschaft deutlich macht und gleichzeitig, in der Menschheit dunkelster Stunde, doch den Glauben an die Vernunft des Menschen erhält, aber eben nur wenn erstritten. Als Galileo gefragt wird, ob sich die Wahrheit nicht „ohne uns“ durchsetze, lässt Brecht ihn antworten: „Nein, nein, nein. Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“
Ob die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst genommen werden, ist, daran werden wir hier erinnert, nicht erst beim Klima-Wandel eine Frage danach, wie sich politische Akteure positionieren bzw. verhalten, etwa die Republikanische Partei in den Vereinigten Staaten, die Noam Chomsky bekanntermaßen als „most dangerous organisation in human history“ bezeichnet. Denn das ist natürlich der entscheidende Unterschied zu Galileo, dessen Erkenntnis nicht den Fortbestand der Menschheit an sich tangiert hat.
Deutlich weniger bekannt als Brecht und Galileo ist das in der Schau und Latours Denken ebenfalls omnipräsente Konzept von „Gaia“, der Mutter Erde. In besagtem Interview heißt es: „Wir sind in Gaia eingebettet, aber wir müssen einen Brecht’schen, nicht immersiven Weg finden, um den Menschen zu demonstrieren, dass sie eingetaucht sind.“
Dieser Ansatz, dieses Zeigen mit den Mitteln der Kunst, durchzieht tatsächlich die gesamte Ausstellung und macht sie so erstaunlich greifbar. Femke Herregravens Installation „Malleable Regress“ veranschaulicht das besonders deutlich. Schwere Gummiblöcke sind da zu sehen auf großen Textblöcken. Das Werk bezieht sich auf Tjipetir-Gummiblöcke, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der damals niederländischen Kolonie Indonesien hergestellt wurden, um Unterwassertelegraphenkabel zu isolieren. Einige dieser Blöcke werden, hundert Jahre nach dem Sinken eines Transportschiffs mit dieser kostbaren Ladung an Bord, an die Küsten verschiedener Länder gespült, drei sind in der Ausstellung zu sehen. Die Textblöcke schließlich stellen die direkte Verbindung zu uns Betrachtenden mit unseren Smartphones in der Tasche dar, denn auf ihnen ist das Patent für ideale Serverstandorte in der Arktis abgedruckt.
Der Bogen zu all den kolonialen Bezügen in der Ausstellung schließt sich letztendlich natürlich auch in der Frage, wer welchen Beitrag zur Bewältigung des Klima-Wandels zahlt. Es dreht sich also nicht um eine rein ideelle oder moralische Frage, sondern um eine Politische. Das war übrigens, hier sind wir wieder bei César und Henderson, schon im Zeitalter des Imperialismus der Fall. Wissenschaft in Form von kolonialem Wissen, so der Kolonialismus-Historiker Jürgen Osterhammel, war nämlich „weniger theoretisches als handlungsleitendes Wissen.“ Selbst wenn sich der Westen im 19. Jahrhundert nicht der Auswirkungen der Industrialisierung auf das Klima bewusst war, meinte etwa der postkoloniale Theoretiker Dipesh Chakrabarty während eines Vortrags auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin letztes Jahr, trage er dennoch eine größere historische Verantwortung für die Folgen dieses Prozesses. Chakrabarty bezog sich damals übrigens auch auf Latour, er zitierte dessen Idee der „ghost acres“, also derjenigen Flächen an Land, die der Westen für die Aufrechterhaltung seines Lebensstandards benötigt, die aber nicht im Westen selbst liegen.
„Down to Earth“ ist eine erstaunlich umfangreiche Schau. Trotz seiner sich durch verschiedene Performances steten Wandlung ein Gesamtkunstwerk vielleicht, denn im Raum steht hier immer auch, wie im Begleitheft minutiös nachzulesen, die eigene Klimabilanz der Ausstellung, deren Mitwirkende etwa alle nur mit dem Zug angereist sind.
Auf jeden Fall ist es dem Martin-Gropius-Bau, wo einst das Kunstgewerbemuseum beheimatet war, gelungen, einen Ort zu erschaffen, der dieser Tradition des Nachdenkens über den Zusammenhang von Kunst und unseren Alltagsgegenständen und dadurch -praktiken gerecht wird. „Down to Earth“ lädt dazu ein, über das inzwischen glücklicherweise stark präsente Thema des Klimawandels doch nochmal, oder besser immer wieder, neu nachzudenken.
Vielleicht schaffen wir es ja, wenn wir den hier angestoßenen Denkwegen weiter folgen, doch noch, modern zu werden, wobei wir am besten die Aufklärung gleich mit von deren aus unserer Sicht nicht-modernen Elementen bereinigen („Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen“ – Kant). Es wäre uns zu wünschen, denn so wie die Macher*innen von „Down to Earth“ den Begriff verstehen, bleibt uns dazu eigentlich, wie wir längst wissen, gar keine Alternative. Und vielleicht können wir uns so auch der Geister entledigen, die nicht nur im Schatten jener noch immer so wirkmächtigen, von den Glühbirnen des Fortschritts hell leuchtenden Vorstellung der westlichen Moderne spuken, sondern auch auf den Feldern der Gegenwart.
Andernfalls bleibt eben niemand zurück, der sich erfreuen könnte an der „brilliance of sunshine.“